Claire Bretécher
Claire Bretécher
„Das ist doch wirklich Unsinn“, sagte Claire Bretécher vor einigen Jahren im Interview, als die Rede auf den Philosophen Roland Barthes kam, der sie einst die „wichtigste Soziologin Frankreichs“ nannte. Die Interviewerin hakte nach. Sie beobachte nicht, erklärte Bretécher, ihre gezeichneten Geschichten kämen aus ihrem sozialen Umfeld, und handelten mehr oder weniger von ihr selbst. Erst hinterher stelle sich dann heraus, dass eine ganze Menge Leute ihre Ansichten teilten. – Bretécher wirkt, noch Jahrzehnte nach dem Erscheinen der ersten „Frustrierten“-Comics, über diesen Umstand einigermaßen überrascht.
Wenn der Max und Moritz-Preis für ein herausragendes Lebenswerk in diesem Jahr an Claire Bretécher geht, dann wird damit eine Künstlerin geehrt, deren Einfluss, spätestens seit ihrem endgültigen Durchbruch 1973, gar nicht überschätzt werden kann. Wer alt genug dafür ist, kann sich noch an die Bombe erinnern, die die urbanen Plapper-Szenarien aus Frankreich im deutschsprachigen Raum war (eine erste, gute Übersetzung erschien 1978 beim Rowohlt Verlag). Permanent unterspannte Frauen (und Männer) fläzten sich im Tuschestrich auf Sofas und Betten, hockten im Bistro, verhandelten Revolution und Rohrzucker, Religion und Menstruation und zu enge Hosen. Weinflasche und Zigaretten lagen griffbereit, der Kippschalter zur Hysterie war ebenfalls nie weit. Die „linke Elite“ nannte man diese Kreise damals, heute würde man „Bobo“ dazu sagen. Allein die Art, wie diese Figuren in Kissen versanken oder ihre Beine dreifach ineinander verschlangen und dabei redeten und redeten! Erfrischend hässlich waren sie auch. Schlabberpulli, Augenringe, Hüftspeck, Schlappen ... Und nie stimmte das, was sie wollten und glaubten, mit dem überein, was sie tatsächlich lebten. Daraus ergab sich der Humor, die Pointen, die Melancholie auch, die bei jedem überragenden Komiker mitschwingt.
Man muss von der Zeit reden, in der Bretéchers Alltagsstorys in unsere deutschsprachigen Leselandschaften platzten. Comics waren damals Cowboys und Raumfahrer, Micky Maus, das Zack-Magazin, die streng gehüteten Asterix-Alben der älteren Cousins ... ein paar Cartoonisten, der eine oder andere Zeitungsstrip mit klar beschränktem Horizont. „Die Frustrierten“ mit ihrem weichen Strich, ihrer thematischen Unerschrockenheit und pietätslosem Witz landeten in dieser Abenteuerwelt wie ein Samengeschoss von einem anderen Stern. Um sie herum sprossen bald viele ähnliche Gewächse, von Franziska Becker und Frida Bünzli bis Geneviève Castrée. Bretécher sei, meinte jüngst Catherine Meurisse von „Charlie Hebdo“, weiterhin ein „unterschwelliger Einfluss“ – selbst Zeichner, die ihre Arbeit nicht kennen, zeigten Spuren ihres Schaffens im zweiten oder dritten Grad.
Denn es gab ja im Anfang nur sie. Das Mädchen aus Nantes, geboren 1940 in eine bürgerlich-katholische Familie, bekam mit 15 vom Vater gesagt: „Wenn du erst einen Chef hast, dann wird er dich schon zurechtstutzen!“ Damals nahm sie sich vor, dass sie ihr eigener Chef bleiben würde. In Paris, nach der Ausbildung als Zeichenlehrerin, öffnete ihr René Goscinny die Tür zu einer Comic-Welt, die mit den Magazinen „Spirou“, „Tintin“, und „Pilote“ im Umbruch war – und entließ sie einige Jahre später mit der Bitte, wiederzukommen, wenn sie besser zeichnen könne. Mit Kollegen Marcel Gotlieb alias Gotlib und Nikita Mandryka entstand 1972 „L’Echo des Savanes“ („Gotlib wollte Schwänze zeichnen und Mandryka hatte eigene Anliegen. Für mich gab es keinen Grund, dabei zu sein, aber es klang unterhaltsam“). Elf Ausgaben des einflussreichen Underground-Magazins verantwortete sie mit, bevor sie 1973 überraschend zu „Le Nouvel Observateur“ wechselte, dessen Redakteur auf der Suche nach frischem Wind war. Auftritt: „Die Frustrierten“, gefolgt von „Die eilige Heilige“, „Die Mütter“, „Monika, das Wunschkind“ und schließlich die vielleicht meist geliebte Figur Bretéchers, die Teenagerin „Agrippina“. Längst war Bretécher ihre eigene Verlegerin geworden (auch in diesem Punkt galt: Kein Chef; heute werden die Bücher von Dargaud herausgegeben – auf Deutsch zuletzt von Reprodukt). Neben Sempé kamen ihre Haupteinflüsse vor allem aus den USA: Jules Feiffer, das MAD-Magazin, Johnny Hart.
Und ja, sie war eine Frau, die sich in einer Männerwelt behauptete (nicht schwer, versichert sie, wohlwissend, dass man das nicht von ihr hören will). Ab den „Frustrierten“ – „ich hatte meine Handschrift gefunden“ – bestimmt der weibliche Blick ihre gezeichneten Lebenswelten. Wie ungewöhnlich das war in einer Zeit, in der Frauen im Comic vor allem als kurvenreiche Pappfiguren auftraten! Wie normal das heute geworden ist! Auch das hat Bretécher uns vorgemacht: Dass Frauen wie Männer ganz hervorragendes Material für Helden-, und mehr noch für Antihelden-Geschichten abgeben. Pourquoi pas? Mit einem Comedy-Gespür zum Niederknien: Es wird uns eine Ehre sein, und höchste Zeit, Claire Bretécher den Max und Moritz-Preis 2016 für ihr herausragendes Lebenswerk zu verleihen. (Brigitte Helbling für die Jury)
Persönliche Würdigung durch Brigitte Helbling (es gilt das gesprochene Wort)
„Was war für dich Claire Bretécher?“ fragte ich neulich eine Kollegin aus der französischen Schweiz, die etwas jünger ist als ich und natürlich – dieses „natürlich“ habe ich in den letzten Wochen von vielen Personen bestätigt bekommen – Claire Bretécher und vor allem ihre Strips „Les Frustré“, die Frustrierten, kannte. Die Kollegin sagte: „Diese Comics haben mir gezeigt, dass man zu einer Szene vollständig dazu gehören und sie gleichzeitig in aller Schärfe in Frage stellen kann. Es geht nicht darum, drinnen oder draußen zu sein. Beides zugleich ist möglich. Für mich als 19-Jährige war das unglaublich wichtig.“
Roland Barthes ernannte sie in den 1970ern zur ersten Soziologin Frankreichs, unser letztjähriger Träger des Lebenswerkpreises, Ralf König, unterstreicht weiterhin ihren Einfluss auf die Anfänge seiner Comic-Kunst, Claire Bretécher als Inspiration für Generationen von Zeichnern, von Franziska Becker bis zur jungen Kanadierin Geneviève Castrée (die die Comics in der Hippie-Kommune ihrer Mutter entdeckte), ist gar nicht zu unterschätzen. Bretécher selbst scheint jeden Verdacht einer Vereinnahmung zu scheuen und stellt sich selbst als eine singuläre Erscheinung dar. Was sie auch ist. Das lässt sich an ihren eigenen Vorbildern ablesen – der Amerikaner James Thurber, das MAD-Magazin. So sanft wie Thurber war sie nie, so krass wie die MAD-Zeichner auch nicht.
Das Biotop ihres Comic-Komödienspiels war die französische linke Elite, zu der sie in Paris selbst gehörte, heute würde man Bobo dazu sagen. Was man nicht wusste, als sie damit anfing: Dass sich der Alltag einer marginalen Szene so zugewandt-boshaft und zugleich massentauglich darstellen lässt. In endlos sich fortsetzenden Comic-Seiten! Und in einer Zeit, als die Comics generell noch Kinderware waren, als die Ausreißer im Independent-Bereich immer auf radikale Provokation setzten, und au diable mit den Lesern, die man damit nicht erreichte. Den Massen zu gefallen, war bei Bretécher keine Strategie, sondern ein Zufallsergebnis. Wo sie ihr untrügliches Gespür für den komischen Effekt von einem Panel zum nächsten hernahm, kann ich ihnen nicht sagen.
Und ja, sie war eine Frau, die sich bereits ab den 1960ern in einer Männerdomäne behauptete – nicht schwer, sagte sie gerne, wenn man sie danach fragte, und wusste genau, dass es nicht das war, was man von ihr hören wollte. Heute möchte ich Ihnen gerne sagen, dass es für mich als Comic-Leserin damals sehr wohl eine Rolle spielte, dass es eine Frau war, die mit der Kunst ihrer Comics Neuland betrat. Comics, die Frauen nicht bombastisch schön oder wahnsinnig hässlich, sondern ganz normal daherkommen ließ, mit Schlabberpullis und Hängebrüsten und zweifelhaften Ansichten, und mit Männern, die ähnlich unattraktiv waren und für einmal im Hintergrund blieben. Mochte ich die Comics? Nicht nur, ich fand sie, gerade als Teenager, auch beängstigend. Warum auch nicht? Sie stellten alles, was ich gerne glauben wollte, auf ihre plapperhafte Art in Frage. Aber sie kamen aus meiner Welt, die keine Bobo-Welt war, und sie stellten die Weichen für nächste Comic-Welten, stellen sie bis heute, denn das ist so. Wir alle, die Leser, Leserinnen und auch Unmengen von Künstlerinnen und Künstlern, die heute Comics machen, sind von Claire Bretéchers Singularität beeinflusst worden, tragen sie als Erweiterung oder Antipode, als Variation und als Hommage weiter, kennen sie, kennen sie zuweilen auch gar nicht, und haben doch, das lässt sich nicht vermeiden, ein Wissen um sie und ihre Kunst. Ihr letzter Agrippina-Band erschien vor Jahren, heute zeichnet sie nicht mehr, sondern malt, das passiert im Bereich der Comics schon mal, das macht nichts. Wir hätten Claire Bretécher gerne heute Abend hier gehabt, sie konnte nicht kommen. Was habt ihr denn? Hätte sie als Singularität, die sie ist, möglicherweise gesagt. Wir dagegen von der Max und Moritz-Jury sagen: Es ist höchste Zeit, dieser Grande Dame des Comics den Lebenswerkpreis zu verleihen.
Nicht zuletzt für ihr Comedy-Gespür zum Niederknien. Wo hat sie das bloß gelernt? Das wüsste ich schon gerne.
Ausgewählte Werke
- Die Frustrierten. 5 Bände. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1978–1980
- Frühlingserwachen. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1979
- Die kleinen Nervensägen. Verlag Gerhard Stalling. Oldenburg u. a., 1980
- Die eilige Heilige. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1982
- Die Mütter. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1983
- Kopfsalat. 2 Bände. Carlsen Verlag / Edition Comic Art. Hamburg, 1983
- Zellulitis 1. Carlsen Verlag / Edition Comic Art. Hamburg, 1984
- Monika, das Wunschkind. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1985
- Dr. med. Bobo. 2 Bände. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1986–1987
- Beziehungskisten. Cartoons. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main, 1987
- Wenn Männer ihre Tage haben. Comics und Cartoons. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main, 1988
- Agrippina. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1989
- Touristen. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg, 1990
- Agrippina: Allergien. Reprodukt. Berlin, 2009
- Agrippina: Fix und Fertig. Reprodukt. Berlin, 2015